Antinatalismus - Interview mit Karim Akerma

Eine große deutsche Zeitung hatte Karim Akerma um ein Interview gebeten. Nachdem dieses verschriftlicht vorlang, wurde von der Redaktion eine Veröffentlichung abgelehnt. Hier nun das Interview exclusiv bei uns:

 

Herr Akerma, Sie wollen, dass die Menschheit aufhört sich fortzupflanzen. Warum?

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Wir können uns doch zum Beispiel auf den ethischen Grundsatz einigen: Handle niemals so, dass ein Mensch aufgrund deiner Handlung sterben muss – abgesehen vielleicht von Notwehrsituationen. Jetzt ist es aber so, dass ein Kind, das ich in die Welt setze, zwangsläufig irgendwann stirbt. So ist die Welt eingerichtet. Folglich sollte ich nicht zeugen. Eltern verurteilen ihr eigenes Kind immer auch zum Tode.

Ist das verwerflich? Sie haben dem Kind das Leben doch überhaupt erst geschenkt.

Das ist eine beschönigende Metapher. Jemandem, der nicht ist, kann ich nichts schenken. Präziser müsste man sagen, dass Eltern so gehandelt haben, dass sich ein Mensch genötigt sieht sein Leben zu führen. Schon der große Aufklärer Kant hat die sogenannte Natalschuld-Umkehr angeregt. Kinder haben ja gar nicht nach Dasein gefragt. Sie fanden sich einfach vor und zwar auf Geheiß ihrer Erzeuger.

Sind Sie Ihren Eltern denn böse? Leben Sie nicht gerne?

Doch. Es gibt vieles, was das Leben für mich lebenswert macht; menschliche Begegnungen, Musik, Literatur, Sport. Es ist doch so: Niemand wollte zu leben beginnen. Aber wenn man einmal da ist, muss man weitermachen. Da wirken biologische Gesetze. Und solange keine Krankheiten, Trauerfälle und andere Katastrophen im Wege stehen, tun die Leute das sogar gern. Ich bin da keine Ausnahme.

Dann können Sie sich sicher auch freuen, wenn ein glückliches Paar seinen Kinderwagen an Ihnen vorbei schiebt?

Im nächsten Moment komme ich dann aber an einem Greis vorbei, dem Einsamkeit und Schmerzen ins Gesicht geschrieben stehen. Ich frage mich dann immer, ob den jungen Eltern eigentlich klar ist, dass ihr süßes Kind eines Tages auch so ein trauriger Alter wird. Irgendein blinder Fleck sorgt offensichtlich dafür, dass ihnen der Zumutungscharakter des Lebens verborgen bleibt.

Zumutungscharakter des Lebens? Ich dachte Sie leben gern?

Ich bin Philosoph. Unsere Aufgabe ist es, das vermeintlich Naheliegende in Frage zu stellen. Dazu gehört auszusprechen, dass unser Leben aus einer Reihe von Zumutungen besteht. Wir bewältigen ein fürchterliches Pensum. In der Schule sitzt nicht immer die fröhlich schreiende Meute. Da wird auch unter Stress und Schikanen gelitten. Es folgen 40 Jahre Berufsleben, dominiert von Langeweile oder Überforderung. Dann geht es mit einem Tritt in den Hintern in Rente. Von 100 Prozent auf fünf von einem Tag auf den anderen.
Keiner gibt es zu, aber die meisten kommen damit nicht klar.

Zumindest hierzulande führen die meisten aber doch ein glückliches Leben. Wieso sehen Sie alles so schwarz?

Ich halte die ständige Rede vom Glücklichsein für einen Schutzmechanismus der Gesellschaft, um unser Fortleben als Gattung zu rechtfertigen. Ein sozialer Effekt, eine Art unterbewusste Verschwörung. Wir versichern uns ständig, dass das Leben in Ordnung ist. Aber, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, dann klagen die Leute. Über den Job oder das gestörte Verhältnis zum Partner. Wir sind sehr gut im Verdrängen. Fast jeder kennt jemanden, der seit Jahren seelisch oder körperlich leidet. Aber haben Sie schon mal von chronischem Glück gehört?

Muss das denn unser Anspruch sein? Das viel zitierte „kleine Glück“ entschädigt doch immer wieder für vieles.

Das ist ein verbreitetes Missverständnis. Viele stellen sich Glück und Leid als Größen vor, die sich verrechnen lassen. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, müsste man fragen: Hat das deutsche Wirtschaftswunder, das Millionen Glück gebracht hat, das Leid der Menschen in den Konzentrationslagern kompensiert? Der Verlust eines engen Freundes ist nicht dadurch vergessen, dass ich danach noch tollere Menschen kennenlerne. Leid wiegt ethisch schwerer als Glück.

Das müssen Sie erklären.

Die Grundlage meiner Überlegung ist der sogenannte negative Utilitarismus. Utilitaristisch handeln, heißt das Glück der größtmöglichen Zahl anzustreben. Nun maße ich mir nicht an, zu wissen, wie man das allgemeine Glück mehrt. Deshalb drehe ich das Prinzip um, denn wie sich Leid verhindern lässt weiß ich. Ganz einfach, indem ich verhindere, das Wesen die leiden können, überhaupt zu existieren beginnen. Das widerspricht zwar unserer Intuition, ist aber eigentlich bestechend logisch.

Wie versuchen Sie diese Einsicht zu verbreiten?

Man kann den Leuten zum Beispiel vor Augen führen: Wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, ist das das Schrecklichste was ihnen passieren kann. Da würde jeder zustimmen. Nun sterben aber alle Kinder. Auch, wenn sie 90 werden, bleiben sie doch die Kinder irgendwelcher Eltern. Die Schrecklichkeit des Sterbens ist nicht dadurch aus der Welt, dass die Eltern vor ihren Kindern gehen. Eltern tun aber so.

Dass ihre Kinder irgendwann sterben, ist den Eltern doch klar. Wenn ein Kind stirbt, ist nicht der Tod so schrecklich, sondern die verpasste Chance auf ein erfülltes Leben.

Wer so denkt, ist immer noch mindestens senilitätsblind. Sie blenden aus, dass Ihr Kind dazu verurteilt ist, alle möglichen Altersleiden durchzustehen. Um deutlich zu machen, was da eigentlich passiert, müssen Sie den Euphemismus „Senioren-Residenz“ durch „Geronto-Lager“ ersetzen. Das ist der Skandal unserer Gesellschaft! Millionen Menschen sind dazu verurteilt, ihren Lebensabend in unwürdigem Zustand zu verbringen. Im Buch „Wie wir sterben“ zeigt der kanadische Kliniker Sherwin B. Nuland, dass das Sterben in den allermeisten Fällen eine furchtbare Sache ist. Die Leute schlafen nicht ruhig und mit beseeltem Lächeln ein. Der Organismus übernimmt das Ruder und hält die Leute noch Monate lang am Leben. Meist von entsetzlichen Ängsten und Schmerzen begleitet.

Wie fallen die Reaktionen aus, wenn Sie versuchen, das Eltern zu erklären?

Das reicht von Verständnis und ehrlichem Interesse, bis hin zu erbitterten Anfeindungen. Mir wird oft gesagt, zu denken wie ich sei böse. Manche glauben, ich wäre für die Vernichtung der Menschheit. Dabei plädiere ich ja nur für ein freiwilliges Verebben, das ist das genaue Gegenteil. Viele sagen, ich sei ein Pessimist.
Denen kann ich bloß erwidern: Schaut in das Führungszeugnis der Menschheit, unsere geschriebene Geschichte. Die Menschen haben schon immer gemartert und sich geängstigt, es wurde nie besser. Wann soll die Probezeit unserer Gattung zu Ende sein, wenn nicht allerspätestens bei Auschwitz?

Würden Sie nicht unterschreiben, dass die Tendenz seither ziemlich positiv ist?

Nur auf den ersten Blick. Aller Fortschritt in Sachen Humanismus und Produktivität, ist leider untrennbar mit dem der Destruktivkräfte verflochten. Denken Sie an die frühe Neuzeit. Man ließ Gott hinter sich, tausende Möglichkeiten brachen auf und gleichzeitig begann mit der Erfindung der Feuerwaffen eine nie dagewesene Vernichtungsorgie. Anderes Beispiel: Atomkraft. Die war nicht bloß energiepolitischer Segen, sondern durch die Unfall-Gefahr und die Bombe höchst problematisch. Wie kann man in eine Welt in der sich unaufhaltsam das Klima wandelt, noch Kinder setzen? Das ist ein Lotteriespiel, letztlich ein Experiment mit Menschen. Wer das ausspricht, wird aber verfemt.

Sie spielen auch auf Ihren Habilitationsversuch an. Der scheiterte 1997 an einem 5:4-Votum.

Ich war damals mit dem Thema Antinatalismus im deutschsprachigen Raum allein auf weiter Flur. Deshalb habe ich naiver Weise angenommen, das wäre ein akademischer Türöffner. In Hamburg hat man das Recht, nach einem gescheiterten Habilitationsversuch die Handexemplare zurückzubekommen. Das wussten manche Mitglieder der Kommission offensichtlich nicht. Ich konnte an den teils sehr despektierlichen Randbemerkungen sehen, dass meine Arbeit nicht immer sachlich, sondern mit unterdrückter Wut gelesen worden war.

Was stand da am Rand?

Unwissenschaftliche Dinge wie „ach ja?“ und „sieh mal an?“ Als sei es völlig absurd, Dinge konsequent zu Ende zu denken. Dabei hat schon Kant die Frage aufgeworfen: Sollen Menschen sein? In meiner Verhandlung, so wurde mir zugetragen, wollte ein ausgewiesener Kant-Spezialist davon dann aber nichts mehr wissen. Es ist immer noch so, dass Autoren weltweit zu dem Thema lieber unter Pseudonym veröffentlichen. Weil sie sich vor gesellschaftlicher Ächtung oder Karrierenachteilen fürchten.

Sie sind verheiratet. War Ihre Frau von Anfang an mit Ihrer Sicht auf die Familienplanung einverstanden?
Sie hat das berühmte Ticken der inneren Uhr zum Glück nie gehört. Man sagt ja, dass Frauen ab 35 nervös würden und unbedingt Kinder wollten. Die Forschung weiß aber inzwischen: Das ist kein Ruf der Biologie, sondern bloß soziale Suggestion.

Soziale Suggestion?

Ja. Da auszubrechen erfordert Mut. Man könnte sagen, der Antinatalismus ist seinem Wesen nach eigentlich feministisch. Simone de Beauvoir war da in fast geschmackloser Weise Vorreiterin. Die hat Sprüche gebracht, wie: Ich möchte nicht, dass ein Polyp in meinem Inneren die Macht über mich ergreift. Die Gesellschaft betrachtet Frauen unterbewusst immer noch als reine Biologie. Frauen sind aber Kulturwesen, die entscheiden dürfen, statt von ihrer Biologie durchherrscht zu sein.

Indem wir die Menschheit langsam aussterben lassen, beantworten wir also die alte Frage, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht?

Ganz genau. Wenn der Mensch wirklich ein Kulturwesen ist, muss er auch in der Frage seines eigenen Gattungsendes kulturbestimmt handeln.

Wie stellen Sie sich das denn vor, wenn die letzten Menschen sterben? Irren da Verzweifelte durch postapokalyptische Landschaften? Oder klopfen die sich auf die Schulter?

Gute Schriftsteller haben die Psyche solcher letzten Menschen erforscht. Ich denke an Hannelore Valencak
„Die Höhlen Noahs“ oder Marlen Haushofers „Die Wand“. Wenn man denen glauben kann, ist das Ganze erträglich. Wenn die Betreffenden Einsicht in die Notwendigkeit des Antinatalismus hätten, wäre es sogar noch einfacher. Das Ende der Menschheit bedeutet ja das Ende aller Hungersnöte, aller Kriege, der Senilität, des Alleinseins. Es wäre das letzte Alleinsein, auf das kein weiteres Alleinsein folgen würde. Trotzdem entbrennt in der Literatur unter dem Menschheitsrest immer die Debatte, sollen wir es noch mal wagen? Wir sind wohl noch nicht so weit.

Sie glauben, das wird sich in absehbarer Zeit ändern?

Ich hoffe es. Der Antinatalismus kommt den meisten Menschen heute absurd vor. Das galt vor wenigen Jahrzehnten aber genauso für den Vegetarismus. Inzwischen beginnt die Einsicht Fuß zu fassen, dass Tiere empfindsame Wesen sind, die wir nicht einfach zu unserem Nutzen hervorbringen dürfen, weil es Alternativen gibt. Ich sage: Ebenso wenig dürfen wir einfach Nutzmenschen hervorbringen.

Nutzmenschen?

Ja, ursprünglich sind wir nichts anderes. Kinder erleichtern den Eltern vermeintlich die unerträgliche Schwere des Daseins. Sie stabilisieren. Wenn wir Kinder machen, dann ausschließlich für uns selbst.

Sollte man den Anatinatalismus zur Not staatlich verordnen? Stichwort Ein-Kind-Politik in China.

Wenn damit Leid verhindert werden kann, bin ich dafür. Wir lesen viel davon, dass die Familien dort unter dieser Politik gelitten hätten. Aber keiner fragt, was passiert wäre, wenn die Bevölkerung ungebremst weitergewachsen wäre. China ist zwar riesig, hat aber pro Kopf kaum Anbaufläche. Ohne staatlichen Antinatalismus wären Hungersnöte nicht zu vermeiden gewesen. Über die konkrete Umsetzung muss man aber diskutieren.

Was müssten wir Menschen ändern, damit auch Sie sich mit der Weiterexistenz unserer Gattung anfreunden könnten?

Es gibt ja schon lange Bestrebungen uns biologisch oder technisch besser zu machen, unempfindlich für Leid und so weiter. Da geht dann aber vielleicht das bisschen Empathie drauf, über das wir verfügen und das Problem der Überbevölkerung ist auch noch nicht geklärt. Ich halte diesen sogenannten Transhumanismus für die letzte Fluchtstrategie vor der notwendigen Einsicht in den Antinatalismus.

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