Der Ochs in Todesangst

von  Alfred Polgar

Im Allgemeinen - sagen die Metzger - dürfe gelten, dass Schlachtvieh keine Todesangst empfinde. Besonders für Hornvieh treffe dies zu. Das Huhn, wenn die Köchin es so gewiß zwischen die Fäuste nimmt, das Schwein, zum Block geschleift: sie mögen ahnen, was ihnen bevorsteht. Aber Hornvieh ist eben Hornvieh. Dumpf, dumm, dämlich. Wehen des Todesfittichs spürt es nicht, und Schatten des Fittichs kann es nicht sehen, weil der gütige Mensch dem Ochsen die Augen verbindet, ehe er ihm die Keule aufs Stirnblatt schmettert. So ist er schon einmal, der Mensch.
Also Schlachtvieh hat keine Ahnung, was kommt. Zu Kriegsbeginn ist der Beweis im großen Stil erbracht worden. Da sah man es fröhlich brüllend durch die Straßen ziehen und die Stirnen, der Keule verfallen, hoch tragen.
Es leben aber auch Fleischhauer, die behaupten, dann und wann geschehe es, dass das dumme Vieh in articulo mortis sich benehme, als empfinde es Todesangst. Die meisten Ochsen betreten des Platz, wo an ihnen die entscheidende erste Handlung in der Reihe jener Handlungen vollzogen wird, die sie aus Lebewesen in einen Komplex von Eßportionen verwandeln, ruhigen Herzens, ohne Zeichen von Gemütsbewegung. Der Schlag trifft sie, und sie sterben eines schönen Todes. Bei einem oder dem anderen Vieh jedoch trifft solche Erfahrung nicht zu; es gebärdet sich, als hätte es Beklemmungen, Ahnungen, Vorgefühle.
In der pikanten Stadt Budapest hat sich jüngst Derartiges ereignet. Ich las darüber im „Illustrierten Blatt“, das auch von der Endphase des Vorfalls eine photographische Aufnahme zeigt.
Jener Ochs, jener Besonders-Ochs, von dem die Budapester Nachricht erzählt, wurde, zwei Schritte vorm Schafott - schon schnäuzte sich, Luft und Klarheit seinem Hirn erblasend, der Hinrichter in die rot quadrillierte Schürze - von Todesangst befallen. Er zitterte, ächzte, stürzte in die Knie, als wollte er um Gnade bitten. Vielleicht erblasste er auch, aber man sieht es einem Ochsen nicht an, wenn er erblasst. Funktion des Lachens und Erbleichens ist den Tieren versagt: Diese äußeren Zeichen der Heiterkeit und der Angst sind Reservatrecht des Menschen, des schamlosen Dünnhäuters. Ehe man dem Ochsen noch den Standpunkt als Schlachtviehklarmachen konnte, hatte er sich losgerissen, tobte den Weg, den er gekommen war, zurück, überrannte Hindernisse, durchbrach Tore, lief auf die Straße. Er lief zehn Kilometer weit, und die Menschen sprangen zur Seite und brüllten wie Ochsen; die Wachleute hoben die Hand und ließen sie resigniert wieder sinken; in den Gasthäusern stürzten die Leute kauend, die Gabel in der Faust, ans Fenster, und ein zufällig des Wegs schlendernder Dichter sah Feuer aus den Nüstern des rasenden Tieres sprühen.                                                                    Zehn Kilometer weit lief der Ochs, der Schönheiten Budapests nicht achtend. Endlich wurde er müde und suchte Unterschlupf, denkt Euch - in einem Keller! Welche Folgerichtigkeit des Fluchtgedankens! Hinab, unter die Erde, ins Dunkle, Abseitige, schwer zu Durchspähende. Sie fanden ihn natürlich doch, „gänzlich erschöpft“, wie der Bericht meldet. Er lag auf der Seite, geschlossenen Auges und ließ mit sich geschehen, was die Andern wollten. Um die Vorderbeine kam ein Seil, um die Hinterbeine kam ein Seil; so schleiften sie ihn aus seinem Versteck ins Freie. Dann gruppierten sie sich um den Gefangenen; ein Mann hielt straff das rechte Seil, einer straff das linke Seil; einer, ein kurzer Kerl mit Schirmkappe, dickem Schnurbart und Arbeitsschürze, setzte dem Hingestreckten den Stiefel auf die Flanke, und dann kam der Photograph und knipste für das „Illustrierte Blatt“. - Es wurde ein erschütterndes Bild. Wie er daliegt, der Bruder Ochs, des Heiligen Lukas sanfter Freund, und um ihn die Schar der schrecklichen Gesichter, aufgebrochen von Gelächter, das ein Privileg ist der Menschenschaft!
Wahrscheinlich haben sie ihn dann mit zwiefacher Passion geschlachtet, im Schwung des Beils nicht Arbeitspflicht erfüllend, sondern auch Rachlust befriedigend. Ein widerspenstiger Ochse, ein Ochse, der, wo es sich doch nur um Fleisch handelt, es mit der Seele bekommt, hat keinen Anspruch auf Sympathie.
Immerhin dürften die, die von ihm gegessen haben - ich hoffe das inständigst -, von Bauchgrimmen heimgesucht worden sein. Denn dieser Ochs war psychisch vergiftet. Kaum denkbar, dass die Toxine der Todesangst nicht auch in seine Fasern und Gewebe gesickert sein sollten.
Ich will den Herrn im Gasthaus, der beim Essen stets aus der mittleren Sammlung Majjhimanikayo des Pali-Kanons liest, fragen, was der Buddha über die Todesfurcht der Tiere weiß und sagt. Der Narr ist immer so vertieft in seine Lektüre, dass er auch, während er den Bissen zum Munde führt, nicht die Augen vom Buch wendet. Oft tropft ihm, und er merkt es gar nicht, der Bratensaft über die Weste.

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