Der Sohn des Jägers – ein Essay der Empörung

Es ist völlig sinnlos, sich mit ihnen darüber zu unterhalten, sie verstehen es nicht, sie können es nicht verstehen, denkt er, sie hören es, aber es sickert nicht in das Herz, in den Verstand, ergreift  nicht ihr Denken, noch weniger ihr Handeln  und sie wollen es auch nicht verstehen und werden es auch in nächster Zukunft nicht verstehen. Es ist genauso nutzlos mit ihnen über Ethik zu reden, über ethisches Verhalten zu diskutieren, weil sie es nicht begreifen, ist es doch von ihren stupiden Verhaltensweisen, von dem, was sie von ihren Eltern und Großeltern gelernt und übernommen haben, weiter entfernt, als die Lebensbedingungen eines Millionärs vom harten Existenzkampf der Menschen in einer römischen Vorstadthochhaussiedlung.
 
Bei den Großeltern, überlegt er sich, hört bei ihnen die Geschichte meist auf, findet dort ihr schnelles Ende, obwohl ihr Verhalten mit seinem barbarischen Vernichtungstrieb  in vormenschliche Zeiten zurückreicht und sie hier eigentlich ihre geistige Heimat haben. Ihre heutige Heimat zieht ihre Kraft aus faschistischen Wurzeln, grüne Uniform, optischer Einheitsbrei, horden- und herdenweises Auftreten, ihre auftrumpfende und abstoßende Art mit plumper Rechthaberei, ihre protzige Selbstherrlichkeit im Wald, bei Veranstaltungen, in den Blutandachten der Hubertusmessen, das Gehabe von Herrenmenschen, stolz auf ihre Privilegien; die faschistoide Herkunft ist unleugbar, springt ins Auge, ist manifestiert in einem Gesetz, das aus dem Herzen der Menschenverachtung, aus der Tiefe der Lebensvernichtung stammt.  Ihm fällt sofort das Wort der Parkplatzwächtermentalität ein. Gib einem kleinen Geist kleine Macht und du erlebst einen kleinen Diktator, denkt er. Sie müssen herdenweise dahergehen, sie können nicht anders, sind sie doch allein ihrer eigenen Jämmerlichkeit ausgesetzt, sie müssen marodierend durch Wald und Flur ziehen, die kleinen Diktatoren, um eine Triebbefriedigung im Machtrausch des Tötens zu erleben, die kleinen Herren, die nicht resozialisierbaren Triebtäter, die pathologischen Wiederholungstäter, die Onanisten des Todes.
Ethik ist ihnen ein Graus, so seine Schlussfolgerung, als Gebrabbel dieser Neunmalklugen gebrandmarkt, ein Geschwätz der Städter, die sich im dumpfen Dorfmief, in der auflauernden, gegenseitigen Beobachtung der Klein- und Kleinststädte nicht wohlfühlen, ein Geplapper dieser Besserwisser, die eine kleinkarierte Lebensauffassung - die kleinen und großen Karos darin in schwarz, in braun und kirchenviolett - nicht nachvollziehen wollen.
Was sagt den Grünberockten Empathie, was sagt ihnen Ethik auch? Diese Worte, die aus einer Welt fern ihres provinziellen Stumpfsinns herüberklingen, diese Worte, die meinen, dass ein Tier, ebenso leidet wie ein Mensch, dass ein Tier ebenso ein Recht auf Leben hat, genauso, wie einer dieser größenwahnsinniger Waldmetzger, diese Worte, die fordern, dass tierisches Leben nicht für ein  Ausleben von triebhaften Machtgefühlen und niedersten Tötungsinstinkten eines Kleingeistes missbraucht werden darf, diese Worte sagen ihnen nichts, erreichen sie nicht in ihrer schmutzigen Gesinnung.  Sie missbrauchen ihre schmutzige Gesinnung dazu, ihre Tötungslust ungehemmt auszutoben, sie lügen alle Fakten für ihre gemeinen und niedrigen Zwecke um. Kein Vorwand ist primitiv genug, den Vernichtungstrieb, die Tötungslust zu rechtfertigen, aber wie sollte er auch durchdacht sein aus dem Hirn eines Wesens, dem triebhafte Instinkte Intellekt ersetzen.
Für Volk und Vaterland wirft sich die grüne Horde dem Angriff der Wildschweine entgegen und rettet das menschliche Leben vor dem Fuchsbandwurm, tötet aus faschistisch-brauner Gewohnheit die Zuwanderer, die in seinem deutschen Wald, in seinem deutschen Freizeitschiesskino kein Lebensrecht haben dürfen, wie Waschbären, wie Nilgänse. Könnte er nur, wie ihm der Sinn steht, die Zuwanderung wäre beendet für alle Neuankömmlinge, auch wenn er seinen Artenwahn heute nur noch an Tieren ausleben kann und ihm die Gleichwertigkeit von Leben keine Bedeutung hat, schon gar nicht die Gleichwertigkeit im menschlichen und tierischen Leid zu erkennen vermag. Ich vernichte, also bin ich, so sein credo, auch wenn ich klein und dumm und ungebildet bin, gerade dann muss ich töten und meine kleine, gemeine Niedrigkeit mit Vernichtung anderer, über die ich armselige Kreatur noch Macht zu haben glaube, rechtfertigen.
Aber Ethik betrifft nicht allein die Ehrfurcht vor dem Leben, Ethik betrifft auch die Redlichkeit, die Tugend eines Menschen gegen sich selbst. Ethik bleibt ihnen ein Fremdwort schon deshalb, denkt er, weil diese Zurückgebliebenen der menschlichen Höherentwicklung sich selbst und ihre Mitmenschen permanent täuschen und belügen. Sie schieben Gründe jeglicher Art vor, einen Tötungstrieb ausleben zu können, diese Süchtigen der Vernichtung. Töten, zerstören, verletzen ist ihnen Lebenserfüllung, es füllt ihre erbärmliche, muffige Existenz.
 
Nein, ethisches Verhalten, was auch immer das sei jenseits ihres flachen Denkhorizontes von Schweinebraten und Blasmusik und Sonntagschoral, meint er ihre Gedanken zu lesen, ist vom Teufel, ist neumodisches Getue, das haben sie noch nie gebraucht und verstehen es deshalb auch nicht, geschweige denn können sie es verstehen, bevor es nicht  von Hochwürden in griffigen, einfachsten Sätzen in der sonntäglichen Andacht erwähnt wurde und in ihre Dummschädel hineingebetet wurde.
 
Kommt nun noch einer daher, der von wissenschaftlichen Erkenntnissen spricht, einer dieser Köpfe, der Bücher liest und vielleicht sogar studiert hat, also einer dieser Menschen, die überhaupt nicht mitreden können, weil sie schon deshalb keine Ahnung haben, weil sie keinen Schnellkurs im Töten bestanden haben und der sich auch weigert, eine derart alberne Prüfung als Nachweis des Nichtwissens abzulegen, sondern sich vielmehr auf Fakten, auf logisches Denken und kritische Analysen verlässt, ist das Maß voll bei ihnen, so seine Erfahrung.
Ethik, Empathie, wissenschaftliche Erkenntnisse, was soll das, was soll das überhaupt sein, so ihre dauernde Frage, diese absurden Fremdwörter, die sie noch nie brauchten, deren Sinngehalt, deren Bedeutung ihnen unverständlich, nicht verstehbar ist und es auch schon immer ohne sie ging, weil das Leben in der Natur damit in keiner Weise erfasst werden könne, also Wörter, die unnötig, weil unnütz sind und das Leben überhaupt anders ist, als Bücherweisheiten, was soll also dieses belastende Zeug, klingen ihre monoton repetierten Worte in seinem Gedächtnis nach.
Sie merken es nicht und glauben es noch weniger, dass sie es sind, die völlig naturentfremdet sind. Die freie Natur, Wald und Feld, als Lebensraum aller darin existierender Lebensformen ist ihnen suspekt. Die Vorstellungen ihrer bornierten Kleinbürgerlichkeit müssen dort gelten, die Vorstellungen dessen, was ihren abstoßenden Vorstellungen, getauft in dem Bierdunst der Dorfkneipe, erfahrbar ist. Die industriell genormte Natur, der Freilandindustriekomplex, diese denaturierte Natur entspricht ihrer kleinbürgerlichen Ordnung und diese Ordnung wird mit der Flinte despotenhaft verteidigt.

Er denkt für sich, was mache ich eigentlich, ich gehe immer davon aus, unbewusst, instinktiv, dass alle Menschen gleich sind, gleicheinsichtig und erkenntnisbereit, was mache ich doch für einen Gedankenfehler, was begehe ich doch für einen Trugschluss. Lehrt mich nicht das Leben täglich, stündlich, dass die Bandbreite im Geist, die Spannweite des Denkens, die verschiedenen Dimensionen der Intelligenz nirgends so auseinanderklaffen, bei keinem anderen Wesen solche Unterschiede aufweisen, als beim Menschen? Wie kann ich davon ausgehen, dass Ethik, Empathie und logische Analysen verstanden werden, wenn ich doch weiß, dass aller Geist dem unsichtbar ist, der keinen hat. Warum wende ich mich überhaupt mit solchen Gedanken an diese Mikroben des Denkens, an diesen Orden der geistigen Minoriten, an die Bettelmönche der Intelligenz, warum, fragt er sich, wirst Du nicht schlau und folgst der Erkenntnis, dass man Geist am besten damit zeigt, dass man mit Dummen nicht spricht.

 Aber es gibt ja nicht nur diese dumpfen Bauerntölpel in der Fraktion der Tötungsgierigen, wenn auch diese Sorte sofort hervorsticht und ins Auge fällt, nein es gibt auch die mächtigen, die reichen, die einflussreichen Brandstifter der Vernichtung, die eigentlichen  Betreiber des Todeskarussells. Es gibt die kleinen und großen Beamten und die Richter und die Staatsanwälte und die Minister und die Priester und die Redakteure, es gibt ihn, diesen mafiösen Sumpf der gegenseitigen Vorteilsgewährung, es gibt diese Camorra der Vernichtung, die Gesellschaft der Todesboten, die das Vernichtungskarussell am Laufen halten, es schön finden, selber damit fahren, weil auch sie Triebbefriedigung in der Vernichtung finden. Er frägt sich und findet keine Antwort, wie es sich eine Gemeinschaft, ein Volk, ein Staat, der Zukunft den Menschen verspricht und tatsächlich nur vorlügt, wie kann sich dieses Volk entwickeln, das durchsetzt ist von Menschen, die vom Töten begeistert sind, die Töten als Lustbefriedigung haben, fragt er sich, was ist das für ein Volk, dass nicht aufsteht, das sich nicht wehrt, das sich die Natur, den eigenen Lebensraum von pathologischen Profiteuren und Triebtätern zerstören lässt. Ist dieses Volk überhaupt anders, unterscheidet es sich von der tötungswilligen Minderheit, würden auch sie die Karren der Verurteilten zur Guillotine zerren und bei jedem abgeschlagenen Kopf vor Begeisterung johlen, unterscheidet sich dieses Volk überhaupt von dem Auswurf der Lebensverachtung, verdient es dieses Volk, dass sich Verkünder der Ethik hinstellen und die Protagonisten des Tiermordes anklagen. Er zweifelt, wird unsicher, bekommt Beklemmung, wenn er denkt, dass alle um ihn herum ähnlich denken, vergleichbar triebgesteuert sind, dass Ehrfurcht vor dem Leben nur die Fiktion von philosophischen Eigenbrödlern sein könnte, dass Töten, dass Auslöschen wirklich die große Lustbefriedigung der Masse ist, dass die Masse zumindest das Töten toleriert, nicht ablehnt, nur in Sonntagsreden sich dagegen ausspricht. Er bekommt Beklemmung, Herzrasen, wenn er unter diesen Vorzeichen überlegt, was wäre, wenn ein großer Charismatiker das globale Töten fordert, als wichtig verkauft und die Masse dafür wieder begeistert und mit dem Tod der anderen fasziniert, wird sich dann wieder zeigen, dass alle Bemühungen um Empathie, Ethik und Vernunft vergeblich waren, dass der Mensch im Wesen unveränderlich ist und an seiner unveränderlichen Starrheit zugrunde geht, nachdem er alle Wehrlosen bereits zu seinem Vergnügen hingemordet hat. Er muss die Gedanken abbrechen, er kann sie nicht ohne tiefe Abscheu fertig denken, er fürchtet das Ergebnis, er scheut sich noch vor der endgültigen Demaskierung der Bestie Mensch und schämt sich zutiefst, dass sein Vater ein Jäger ist.


17.3.2011   Gunter Bleibohm

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