Das Fleisch der Kritischen Theorie

von Karim Akerma

„Also, lieber Herbert, nachdem wir uns an Tafelspitz und Wiener Schnitzeln gestärkt haben, gehen wir zur Ästhetik über.“

Beißender philosophischer Humor: Wie man die Moral mit Löffeln fressen kann. Fortsetzung eines Gesprächs mit Herbert Marcuse unter Einbindung Adornos

Verfechter einer zeitgemäßen und solidarischen Ernährungsweise sind gut beraten, Vertreter der Kritischen Theorie wie Marcuse oder Adorno nicht zu Hausgöttern oder Urtheoretikern der vegetarischen Sache zu machen. 1977 führte Jürgen Habermas mit Herbert Marcuse und anderen eine Reihe von Gesprächen, die aufgezeichnet und im Suhrkamp Verlag publiziert wurden. Auszug aus einem Gespräch, an dem Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Heinz Lubasz und Tilman Spengler teilnahmen:

HABERMAS „Wir kreiseln. Ich finde, wir sollten zur ästhetischen Theorie übergehen...
SPENGLER Ich schlage vor, etwas zu essen.
HABERMAS Ja.
MARCUSE Das gehört auch zur Ästhetik.
LUBASZ Erst das Essen, dann die Moral...
SPENGLER Und dann die Ästhetik. Das ist eine ganz neue Definition von Geschichte.
[Essenspause]
HABERMAS Also, lieber Herbert, nachdem wir uns an Tafelspitz und Wiener Schnitzeln gestärkt haben, gehen wir zur Ästhetik über.
MARCUSE Freut mich.“[1]

1969 hatte Marcuse eine spezifische politische Praxis gefordert, „den Bruch mit dem Wohlvertrauten, den routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge, so dass der Organismus für die potentiellen Formen einer nicht-aggressiven, nicht ausbeuterischen Welt empfänglich werden kann.“[2] Warum konnte Marcuse, der im „Versuch über die Befreiung“ formulierte: „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, nicht den Versuch zu einer kleinen Weigerung unternehmen und auf sein aus einem Kalb bereitetes Wiener Schnitzel verzichten? Oder sollte es sich so zugetragen haben, dass er keines aß und gar versuchte, der illustren Tischrunde das Fleisch madig zu machen? Mit Sicherheit hätte Habermas – 1977 bereits an der Schwelle zum kommunikativen Handeln stehend[3] – diesenfalls die Gesprächsrunde nach der Essenspause mit anderen Worten eröffnet, etwa so: Also, lieber Herbert, nachdem Sie versucht haben, uns die Wiener Schnitzel im Munde madig zu machen, kommen wir jetzt auf eine klärungsbedürftige Textstelle in Ihrem Buch „Konterrevolution und Revolte von 1972 zu sprechen, ich zitiere:

„Wird menschliche Aneignung der Natur jemals die Gewalt, Grausamkeit und Brutalität beenden können, die mit dem täglichen Opfer tierischen Lebens für die physische Reproduktion des Menschengeschlechtes gesetzt sind? Sich zur Natur ‚um ihrer selbst willen’ verhalten, hört sich gut an, aber wenn Tiere oder Pflanzen verspeist werden, ist das sicher kein Verhalten zu ihnen um ihrer selbst willen. Das Ende dieses Krieges, der vollkommene Frieden in der belebten Welt – diese Idee gehört zum orphischen Mythos, aber zu keiner vorstellbaren geschichtlichen Realität. Angesichts des Leids, das Menschen von Menschen zugefügt wird, erscheint es unverantwortlich ‚verfrüht’, sich für universellen Vegetarismus oder synthetische Nahrungsmittel einzusetzen; angesichts der gegenwärtigen Welt hat menschliche Solidarität unter Menschen unbedingten Vorrang. Und doch ist keine freie Gesellschaft vorstellbar, zu deren ‚regulativen Ideen der Vernunft’ nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern.“[4]

Was hätte es Marcuse, den weltberühmten, einflussreichen und gefeierten Denker von Großer Weigerung und Befreiung verschlagen, sich schon im Hier und Jetzt für den Vegetarismus auszusprechen und ihn zu kommunizieren – „als Kunst der Zubereitung (Kochkunst!)“[5] die Trennung von Ästhetik und wirklicher Ethik aufzuheben? Wo wir vor einem Entweder-Oder stehen, hat die Solidarität mit Menschen Vorrang vor der gepeinigten Kreatur. Doch dieses Entweder-Oder existiert nicht, oder wenn, dann nur als carnivore Ausrede Marcuses. Gerade der Verzicht auf Fleisch bedeutet Solidarität mit Menschen. Wer kein Fleisch isst, votiert nicht allein für weniger Leid, das Tieren von Menschen zugefügt wird, sondern auch für weniger menschliches Leid: Fräßen die Milliarden Schlachttiere nicht all das kostbare Getreide, das auf eigens gerodeten riesigen Waldflächen angebaut wird, könnten weltweit weitaus mehr Menschen satt werden. Sattsam bekannt war dies schon zu Lebzeiten Marcuses. Peter Singer veröffentlichte sein „Animal Liberation“ bereits 1975. Wer sich vegetarisch ernährt, verhält sich solidarisch mit den Armen und Hungernden der Gegenwart und künftigen Generationen. Gleichsam um der Marcuseschen Idee vorzubauen, für das vegetarische Kochen sei es noch zu früh, enthält Singers Buch das Kapitel „Cooking for Liberated People“. Die Moral kommt folglich nicht erst nach dem Essen, sondern löffelweise bereits beim Verspeisen köstlicher vegetarischer Gerichte. Tatsächlich kann man die Moral mit Löffeln fressen! Marcuses Aufschiebung des Vegetarismus ist, ethisch gesehen, unsolidarisch und konterrevolutionär.

Gehen wir – nachdem wir uns von den Wiener Schnitzeln abgewendet und zwei Schriften Marcuses zugewendet haben –, wie von Habermas nach der Mittagspause vorgeschlagen, nun wirklich zur Ästhetik über, nämlich zu derjenigen Adornos. Marcuse zitiert ihn in „Konterrevolution und Revolte“, um seiner „Idee der Befreiung der Natur“[6] Ausdruck zu verleihen. Die Natur, mutmaßt Marcuse, komme einem solchen Unternehmen entgegen, in ihr sei „blinde Freiheit“ und von dieser Blindheit sei sie zu erlösen. Mit Adornos von Marcuse zitierten Worten gehe es darum, der Natur zu helfen, „ihre Augen aufzuschlagen“; „auf der armen Erde ihr zu dem zu helfen, wohin sie vielleicht möchte.“[7]

Wie es scheint, hatte Marcuse, als er Adorno zitierte, den Braten noch gar nicht gerochen. In einer musikalischen Schrift zu Alban Berg charakterisiert Adorno Horkheimer und sich selbst einmal so: „Wenn ich von Max und mir sagen darf, unser ‚Standpunkt’ sei der marxistische etwa so, wie der Braten der Standpunkt des Essers ist, so lässt ganz gewiss etwas Ähnliches sich von Bergs Verhältnis zur décadence und ‚Spätromantik’, zum süchtigen und todessüchtigen Subjektivismus sagen.“[8] Adorno und Horkheimer mögen den Marxismus, aber nachdem sie ihn sich einverleibt haben, bleibt nichts Erkennbares von ihm übrig. Bei Adorno sind es denn freilich keine Wiener Schnitzel, die zum Wein verspeist werden, sondern: „Nicht wegzudenken aus dem Bilde Bergs ist eine Art sinnlicher Kultur, wie man sie etwa auch in Paris findet, ein sehr subtiler Sinn für gutes Essen und vor allem auch Wein. Ihm danke ich die Kenntnis des damals vorzüglichen, wenngleich überaus schwarzgelben Restaurants Weide in Speising, mit den berühmten Krebspastetchen...“[9]

Präsentieren wir die von Marcuse zitierte Stelle aus der „Ästhetischen Theorie“ Adornos nochmals; in ihrem Kontext: „Technik, die, nach einem letztlich der bürgerlichen Sexualmoral entlehnten Schema, Natur soll geschändet haben, wäre unter veränderten Produktionsverhältnissen[10] ebenso fähig, ihr beizustehen und auf der armen Erde ihr zu dem zu helfen, wohin sie vielleicht möchte.“ Hier liegt die große Weigerung nicht nur der Denker Adorno oder Marcuse vor, sondern wohl der meisten Philosophen: Einzusehen, dass Kalb und Krebschen vielleicht an alle möglichen Orte wollen, nur nicht in Schlachthäuser oder siedendes Wasser, wo ihre Augen geschlossen werden. Adornos Formulierung, wir hätten auf veränderte gesellschaftliche Produktionsverhältnisse zu warten, unterstellt einen Schicksalszusammenhang, den es so nicht gibt. Eine Revolution an den Herden, Kochkunst im Eingedenken der Kreatur, ist hinreichend.
Philosophie ereignet sich, wie Adorno in seiner „Negativen Dialektik“ formuliert, dann, wenn geistige Erfahrung einen vorgängig eingenommenen Standpunkt ebenso verschwinden lässt, wie der Esser den Braten[11]. Möge es so Marcuses Standpunkt ergehen, für die Forderung nach weltweitem Vegetarismus sei es noch zu früh und ebenso Adornos Position offenkundiger Distanzlosigkeit zum Verspeisen empfindender Wesen.

[1] Jürgen Habermas, Silvia Bovenschen u.a. (Hg.): Gespräche mit Herbert Marcuse, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1978, S. 39
[2] Marcuse, Versuch über die Befreiung, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1969, S. 19
[3] In Habermas’ Buch „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ von 1976 heißt es: „Die innere Natur wird in dem Maße kommunikativ verflüssigt und transparent gemacht, wie Bedürfnisse über ästhetische Ausdrucksformen sprachfähig erhalten oder aus ihrer paläosymbolischen Vorsprachlichkeit erlöst werden können.“ (Suhrkamp Verlag, Ff/M 1976, S. 88) Die Berufung auf das Theorem, der Mensch sei von Natur aus Fleischfresser, hätte bei einem solcherart reflektierenden Denker kein Verständnis gefunden.
[4] Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1973, S. 83
[5] Marcuse, Versuch über die Befreiung, S. 54
[6] Marcuse, Konterrevolution und Revolte, S. 80
[7] Adorno, Ästhetische Theorie, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1973, S. 107. Zitat in Marcuse, Konterrevolution und Revolte, S. 81. Der Satzteil „... ihre Augen aufzuschlagen...“ findet sich in Adornos ästhetischer Theorie nicht. Allenfalls: „Was Natur vergebens möchte, vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf.“ (A.a.O., S. 104)
[8] Adorno, Im Gedächtnis an Alban Berg, Gesammelte Schriften Bd. 18, Suhrkamp Verlag, Ff/M 2008, S. 499
[9] Ebd., S. 502
[10] Mit Habermas möchte man gegen dieses Warten auf die neuen Produktivkräfte vorbringen: „Die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewusstseins.“ Habermas, a.a.O., S. 162f
[11] Vgl. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp Verlag, Ff/M 1966, S. 41

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