Gedichte

Das Kälbchen

Du Tier, im dunklen Stall geboren,
Eh du des Lebens recht bewußt,
Greift dich ein Schlächter bei den Ohren
Und reißt dich von der Mutterbrust.

Dein großes Auge fromm u nd helle
Sieht da die Au zum erstenmal,
Doch angstvoll: denn des Hunds Gebelle
Treibt rastlos dich durchs grüne Tal.

Bald binden sie dir deine Glieder,
Sie achten nicht dein Angstgeschrei,
Man wirft dich auf die Schlachtbank nieder
Und schneidet dir den Hals entzwei.

Doch bei dem letzten Hauch der Kehle
Ein Strahl aus deinem Auge spricht:
„In mir auch wohnet eine Seele, -
Für mich auch hält ein Gott Gericht!“

Justinus Kerner (1786 – 1862)

 

Viehtransport in der Nacht

Du liegst im Bett, in deinen Halbschlaf dringt
Der Züge Rollen, Stoßen und Rangieren,
und noch ein Ton, der dich zum Lauschen zwingt!
Es klingt wie Notschrei von gequälten Tieren.

Fast überwältigt dich schon der Schlummer,
und doch erreicht dich dieser Klage Spur.
Du horchst! Ein hilflos Tier stöhnt auf vor Kummer,
es schreit die Qual hinaus die Kreatur!

Denn schon seit Tagen stehn die Tierebrüder
Im engen Wagen, Seit´an Seit´gepreßt!
Sie müssen stehn und brüllen immer wieder,
weil sie der Frachttarif nicht  l i e g e n  läßt!

Da stehst auch du, an Geist und Leib zerschlagen
Von diesem Jammer, der ans Herz dir kroch,
und spähst vom Fenster nach dem Ort der Klagen.
Kannst du, so möchtest du den Nächsten fragen,
jetzt Fleisch noch essen – sage, kannst du´s noch?

Karl Reiners

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