Die Tötung von Tieren und die Zerstörung von Pflanzen

Eine philosophische Betrachtung des Arguments:
„Warum sollte ich kein Fleisch essen? Vegetarier töten doch auch!“

Die These: Pflanzen sind keine lebenden Wesen, von denen sich sagen ließe, sie würden getötet. Wie diese Behauptung begründet werden kann, davon handeln die nachstehenden Zeilen.

Wer oder was lebt? Wer so fragt, bekommt vielleicht eine Antwort, die der folgenden ähnelt: „Lebendig sind alle funktionierenden Organismen, also alle Menschen, Tiere und Pflanzen.“ Gehen wir also für den Augenblick davon aus, alle Menschen, Tiere und Pflanzen seien lebende Wesen, und fragen wir jetzt: „Wer oder was kann getötet werden?“ Die Antwort auf diese Frage könnte lauten: „Alle Menschen, Tiere und Pflanzen.“ Probieren wir nun, wie leicht uns folgende drei Sätze von der Lippe gehen:

1. Frau F. wurde bei einem Verkehrunfall getötet.
2. Auch der Hund von Frau F. wurde bei diesem Unfall getötet.
3. Vor dem Verkehrsunfall war Frau Fischer im Garten und tötete einige Stiefmütterchen
und ein wenig Löwenzahn.

Sätze nach Art von Nummer drei hört man selten, wenn überhaupt jemals. Zwar ist im allgemeinen Sprachgebrauch ziemlich häufig von lebenden Pflanzen die Rede, von der Tötung von Pflanzen hingegen hat kaum jemand je etwas vernommen. Eine merkwürdige Asymmetrie. Ist unser alltägliches Sprechen normalerweise eher unpräzise, etwa wenn wir uns über den „Sonnenaufgang“ unterhalten, so scheint es hier eine wichtige Einsicht zu transportieren. Wohl ist von einzelnen toten Bäumen die Rede und vom Waldsterben. Aber Bäume scheinen eine Ausnahme darzustellen, vielleicht weil sie vor Zeiten als beseelt oder Seelischem verbunden galten. So mag es sein, dass jemand den Wald vor lauter „toten“ Bäumen nicht mehr sehen kann. – „Tote“ Rosen aus Athen dagegen hat noch niemand bekommen.

Im alltäglichen Sprachgebrauch deutet sich hier etwas an, was durch den Umstand bekräftigt wird, dass manche Kinder, und nicht nur Kinder, Pflanzen von Haus aus nicht als lebendig ansehen. Und wie die philosophische Analyse zeigt, haben sie damit recht! Stellen wir uns vor, jemand trete mit der Aufgabe an uns heran, ein grobes Begriffsraster zu entwerfen, mit dem sich alles, was in der Welt vorkommt, in nichtlebende Dinge und lebende Wesen (Lebewesen) einteilen lässt. Wie können wir an diese Aufgabe herangehen? Wenn wir nicht vollkommen willkürlich vorgehen wollen, beginnen wir am besten mit dem Versuch, das Wort „Lebewesen“ zu definieren. Ein Wort zu definieren heißt: Diejenigen Eigenschaft(en) anzugeben, über die ein Etwas verfügen muss, wenn das betreffende Wort korrekt auf dieses Etwas angewendet werden soll.

Nun könnte jemand definieren: „Ein Lebewesen ist jeder Organismus, der über einen Stoffwechsel verfügt.“ Jemand anders könnte formulieren: „Ein lebendes Wesen ist jeder Organismus, der Empfindungen hat.“ Gibt es irgendeine Methode, zwischen diesen beiden konkurrierenden Vorschlägen eine Entscheidung zu treffen?

Bisweilen hört man, es sei unserem Belieben anheimgestellt, ein Wort auf die eine oder auch auf die andere Weise zu definieren. Im Falle des Wortes „Lebewesen“, so scheint mir, ist indes für Willkür kaum Spielraum gegeben. Denn es gibt etwas in der Welt, dem niemand absprechen dürfte, ein lebendes Wesen zu sein: Uns selbst! Wenn überhaupt irgend etwas, dann sind doch wohl wir selbst lebende Wesen. Wir selbst sind der Archimedische Punkt von dem wir ausgehen können und müssen, wenn wir das Wort „Lebewesen“ definieren wollen. Würden wir uns selbst nicht als lebendig ansehen, so würde das Tötungsverbot mit Bezug auf Menschen nicht gelten. Jeder könnte mich absichtlich mit dem Auto überfahren, ohne dass dies als Tötungsdelikt zu ahnden wäre. Wollen wir das Wort „Lebewesen“ definieren und gehen wir in der vorgeschlagenen Weise davon aus, dass wir selbst Lebewesen par excellence sind, so müssen wir im nächsten Schritt herausfinden, was wir selbst sind. Und zwar müssen wir ermitteln, was wir essentiell sind. Mit der Frage danach, was wir essentiell sind, fragen wir nicht nach dem Beruf oder nach der Anzahl der Finger, die jemand hat oder nicht mehr hat. Sondern wir fragen nach einer Eigenschaft, bei deren Verlust ein jeder von uns für immer aufhört zu existieren. Denn wenn wir sagen, jemand sei tot, so wollen wir zum Ausdruck bringen, er habe für immer aufgehört zu existieren. Hingegen wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, er existiere nach wie vor und habe jetzt auch noch die zusätzliche Eigenschaft „tot“.

Was also bin ich (und was ist jeder andere) essentiell? Anders gefragt: Welche Eigenschaft kann ich nicht verlieren, ohne für immer aufhören zu existieren und damit tot zu „sein“? Ohne jeden Zweifel kann ich einen oder zwei oder auch alle Finger verlieren, ohne dass ich aufhörte zu existieren. Ich kann Arme und Beine verlieren, eine oder beide Nieren, den Magen und die Leber oder das Herz. Werden diese Organe ersetzt und wird mir die erforderliche intensivmedizinische Versorgung zuteil, fahre ich fort zu leben. Wenngleich all diese Organe ersetzbar oder gegen Spenderorgane austauschbar sind, so gibt es doch ein Organ, nach dessen Zerstörung ich in der Tat unwiderruflich aufhöre zu existieren: Es ist das Gehirn. Denn selbst wenn die Chirurgie der Zukunft mein zerstörtes Gehirn gegen ein funktionierendes fremdes austauschen können sollte, so würde dies am unwiderruflichen Ende meiner Existenz nichts ändern. Prinzipiell kann jedes meiner Organe gegen ein anderes ausgetauscht oder medizintechnisch ersetzt werden. Nicht mein Gehirn. Warum nicht? Der Grund dafür, dass wir den irreversiblen Ausfall oder die Zerstörung unseres Gehirns nicht überleben, liegt darin, dass unser Bewusstsein (von einfachen Empfindungen eines mehrwöchigen Embryos über die edlen moralischen Ambitionen eines Rüdiger Nehberg bis hin zum Bewusstsein eines schwerst Altersdementen, der nicht länger weiß, wer er ist oder dass er lebt) vom Gehirn hervorgebracht wird (wie das vor sich geht, weiß kein Mensch, aber das ist hier nicht das Thema). Offensichtlich sind wir essentiell das von unserem Gehirn realisierte Bewusstsein. Wer dies bezweifelt, der führe folgendes Gedankenexperiment durch. Nehmen wir an, eine uns vertraute Person XY leide an einem inoperablen Hirntumor. Sie hat bereits mit dem Leben abgeschlossen, da tritt ein eigens angereister Chirurg ans Krankenbett und eröffnet ihr: „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden nicht sterben. Mit Ihrem Einverständnis werde ich Ihnen ein völlig unversehrtes Spenderhirn einpflanzen. Was mit Nieren und Herzen längst Gang und Gäbe ist, können wir heute auch mit Gehirnen durchführen. Schon nach drei Monaten werden Sie sich so weit an das neue Gehirn gewöhnt haben, dass Sie die Klinik verlassen können. Der Eingriff hinterlässt äußerlich keinerlei sichtbaren Spuren.“ Sollten wir die uns bekannte Person XY zu den neuen Aussichten beglückwünschen? Oder sollten wir sie nicht vielmehr über den offenkundigen Schwindel aufklären? Dies wäre wohl unnötig. Sie würde sogleich selbst durchschauen, dass nicht sie es wäre, die ein neues Gehirn bekäme, sondern vielmehr eine andere Person einen neuen Körper bekommen würde – nämlich jene Person, deren unversehrtes Gehirn in den Kopf der Person mit Hirntumor implantiert werden soll. Und tatsächlich dürfte die Person, deren unversehrtes Gehirn eine neue Heimat finden soll – etwa weil ihr Körper von Krebs zerstört ist –, sich leicht davon überzeugen lassen, dass sie die Operation überleben und mit neuem Körper aus der Narkose aufwachen wird.

Was folgt aus alledem? Wir gingen von der unanfechtbaren Grundannahme aus, dass wir selbst lebende Wesen sind. Ein Gedankenexperiment demonstrierte, dass wir für immer aufhören zu existieren, sobald unser Gehirn unwiderruflich aufhört, Bewusstsein hervorzubringen. Bewusstsein erweist sich als diejenige Eigenschaft, bei deren unwiderruflichem Erlöschen wir für immer aufhören zu existieren und damit tot „sind“. Das Gedankenexperiment erweist, dass ich meinen gesamten Körper verlieren kann, ohne dass notwendigerweise meine Existenz endet. So lange mein Gehirn – intensivmedizinisch versorgt oder in einen anderen Schädel implantiert – Bewusstsein hervorbringt, lebe ich. Jetzt können wir definieren:

Ein Leben währt bis zum unwiderruflichen Erlöschen eines Bewusstseins. Symmetrisch beginnt ein Leben mit der erstmaligen Hervorbringung eines Bewusstseins.

Freilich muss Bewusstsein nicht notwendigerweise von einem Gehirn hervorgebracht werden. Vielleicht gibt es Wesen, deren Empfindungen, Emotionen oder Gedanken von einer anderen Instanz als einem Gehirn realisiert werden. Wie die obige Analyse demonstriert hat, hängen Ende und Beginn der Existenz eines lebenden Wesens jedoch am Gegebensein von Bewusstsein. Wenn wir uns dahingehend einigen können, dass wir lebende Wesen sind und dass wir leben (existieren), so lange unser Bewusstsein nicht unwiderruflich erloschen ist, so muss die für unsere Lebendigkeit ausschlaggebende Eigenschaft (Bewusstsein gleich welchen Grades) auch für die Lebendigkeit aller anderen Organismen entscheidend sein. Womit wir vor der für unser Thema entscheidenden Frage stehen: Welchen Organismen wollen wir Bewusstsein zuschreiben? Vielleicht allen Organismen, die ein Gehirn oder ein sogenanntes Zentralganglion aufweisen? Sicher ein guter Vorschlag, demzufolge auch das Heer der Gliedertiere zu den lebenden Wesen gehört. Und die freibeweglichen Einzeller, die kein Gehirn aufweisen? Aufgrund der Komplexität ihres Verhaltens wäre es immerhin noch plausibel, ihnen basale Empfindungen nicht abzusprechen. In Anbetracht mancher Einzeller gewinnt man den Eindruck, dass die Bewegungen und Reaktionen durchaus von ihnen ausgehen und nicht bloß an ihnen geschehen. Wie aber steht es um die ortsgebundenen Pflanzen? Kein Geringerer als Immanuel Kant schrieb ihnen kein Bewusstsein zu und betrachtete sie deswegen nicht als lebende Wesen. Doch will ich mich nicht hinter Autoritäten verstecken. Ein pflanzliches Bewusstsein scheint aus folgenden Gründen unplausibel:
1. Reaktionen scheinen eher an ihnen vorzugehen als von ihnen auszugehen.
2. Pflanzen weisen keine eigentlichen Sinnesorgane auf.
3. Die offene und vergleichsweise undifferenzierte Organisationsform sesshafter pflanzlicher Organismen – die im Vergleich zu Tieren unausgeprägte Differenzierung nach Innen und Außen – lässt es schwerfallen, Bewusstsein zu verorten.
4. Sesshaften Pflanzen wären insbesondere Schmerzempfindungen, vielleicht die Urformvon Bewusstsein, von keinerlei Vorteil: Sie könnnen ihren Fressfeinden nicht entkommen.

Beweisen, messen oder schlicht Hinwegdefinieren lässt sich pflanzliches Bewusstsein freilich nicht. Ein jeder von uns muss sich aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen zu einer Entscheidung durchringen. Wer starke Gründe anzuführen weiß, Pflanzen Bewusstsein zuzuschreiben, der ist gehalten, sie als Wesen anzusehen, die essentiell so sind wie wir: lebende Wesen. Wer Pflanzen hingegen kein Bewusstsein zuschreibt, der wird sie zwar als funktionierende Organismen begreifen, die – mangels mentaler Eigenschaften – essentiell jedoch nicht so sind wie wir. Den Vorwurf der Pflanzentötung kann folglich nur aussprechen und muss nur über sich ergehen lassen, wer Pflanzen zumindest gewisse mentale Eigenschaften, ein basales Bewusstsein, zuerkennt. Gewiss sind Pflanzen keine bloßen Dinge, sondern hochkomplexe Organismen. Wer ihnen kein Bewusstsein zuschreibt, kann indes mit Bezug auf sie nur von der Zerstörung von Organismen sprechen, nicht hingegen von der Tötung lebender Wesen.

Karim Akerma 2007

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